Selingers Suche
Hätte er nicht diesen, nun ja, ungewöhnlichen Lebenslauf gehabt – ich hätte Tobias Selinger wohl nicht eingestellt. Er war kein ausgebildeter Antiquar, sondern Buchhändler; und das, verehrte Frau Doktor, ist etwas ganz anderes.
Warum ich mich trotzdem für ihn entschieden habe? Nun, einmal, weil man ihm ansah: Er brannte für die Bücher. Aber vor allem lag es an meiner Neigung zu Seltsamkeiten und Rätseln. Sie hat mich schon manchmal in Schwierigkeiten gebracht, wenn auch niemals in solche. Als ich seinen Lebenslauf las, konnte ich das jedoch noch nicht ahnen.
»Sie sind also eine Waise?«, fragte ich ihn; für ein Bewerbungsgespräch vielleicht eine etwas ungehörige Frage, und er nickte zur Antwort auch nur knapp, als wolle er nicht weiter darauf eingehen. Aber ein Antiquar ist auch ein wenig Psychologe – nichts für ungut, Frau Doktor, nichts für ungut … Also, ich sah es ihm an der Nasenspitze an: Er wollte darüber reden, unbedingt. Und so erfuhr ich vom Rätsel seiner Herkunft, und damit, kann man sagen, war es um mich geschehen.
Vor dreißig Jahren, an einem achten April, war er auf dem Marktplatz von Selingen aufgetaucht, ein kleiner Bursche von drei oder vier, ganz allein. Weil er stundenlang da herumstand, fiel er schließlich einer Händlerin auf, die ihn fragte, wie er heiße, wo seine Eltern seien, wo er wohne. Er starrte sie nur an und antwortete nicht. Also rief sie die Polizei, die ihn in Obhut nahm und mit allen Mitteln versuchte, seine Familie zu finden – ohne Erfolg. Der Junge sprach nicht, schien es gar nicht zu können, und Spuren seiner Herkunft fanden sich weder an seinem Körper noch an seiner Kleidung. Die hat er mir einmal gezeigt: braune Cordhose, rotweiß kariertes Hemd, anonym, ohne Etiketten. Schuhe und Strümpfe hatte er keine, ging barfuß, im frühen April! Da lag die Vermutung nahe, er müsse irgendwo in der Nähe des Marktes wohnen – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Arzt untersuchte ihn: keine Krankheit, ein gesunder kleiner Kerl, nur eben stumm wie ein Fisch, ein zweiter Kaspar Hauser. Am Ende gaben sie als sein Geburtsdatum den Tag an, an dem er auf dem Markt erschienen war, schätzten ihn auf drei Jahre und brachten ihn ins Hallberger Waisenhaus. Zu seinem Namen kam er dann ganz einfach: Tobias hieß der Polizist, der ihn auf die Wache brachte, und Selinger nach der Stadt, in der man ihn fand.
Auch als er endlich zu sprechen anfing, ein knappes Jahr später, konnte er nichts über sich erzählen. Keine Erinnerungen, nur ein großes schwarzes Loch. Im Waisenhaus blieb er bis zu seinem sechzehnten Geburtstag, dann zog er ins Internat der Berufsschule. Er las sehr viel, interessierte sich brennend für Bücher, also wollte er Buchhändler werden. Die Lehre schloss er mit ausgezeichneten Noten ab, arbeitete danach zwei Jahre lang in der großen Buchhandlung am Markt, aber dieses auf Masse berechnete Verkaufen gefiel ihm nicht, und nun fragte er also bei mir wegen einer Stelle nach. Ich gab sie ihm, vorerst auf Probe. Sicher, Buchhändler und Antiquare – zwei ganz verschiedene Welten, wie gesagt; aber zuerst konnte er ja den modernen Teil des Antiquariats betreuen. Der liegt mir nicht besonders, viel zu neue Bücher, aber ohne dergleichen kommt heutzutage kaum noch einer unserer Zunft aus. Mit der Zeit würde Selinger von mir schon einiges über das richtige Fach lernen, und vielleicht, dachte ich, wäre er wirklich eine Hilfe, wenn ich über die Sechzig hinausgelangte. Aber wenn ich ehrlich sein soll: Vor allem wollte ich wissen, ob irgendwann Licht ins Dunkel seiner Herkunft fallen würde. Das reizte mich. Alle anderen Gründe waren Ausreden.
Doch jahrelang geschah nichts, was zur Lösung des Rätsels beigetragen hätte, und irgendwann dachte ich kaum noch daran. Selinger wurde ein wirklich guter Antiquar, mit einem Händchen für Kunden und für Bücher, und bei den Ankäufen vergriff er sich nur am Anfang ab und zu einmal. Mit der Zeit gewöhnten wir uns gut aneinander, obwohl da in seinem Wesen immer ein Rest Distanz blieb. Das lag nicht an mir, denke ich, sondern galt allen Menschen. Kein Wunder: Menschen hatten ihn schließlich allein gelassen und verstoßen, und das quälte ihn immer noch, auch wenn er nie darüber sprach. Manchmal ging er für ein, zwei Tage auf kurze Reisen in die Umgebung, natürlich nach Selingen, aber auch in andere Orte, wo er Nachforschungen anstellte. Er beharrte auf der Idee, in unserer Gegend geboren zu sein. Natürlich wusste er ebenso gut wie ich, dass man ihn auch aus Bayern oder von der See hätte hierherschaffen können; aber wenn er diese Idee aufgab, blieben ihm gar keine Anhaltspunkte mehr. Und so suchte er hierzulande mit verzweifelter Hoffnung nach seinen Ursprüngen. Solange die im Dunkeln lagen, würde er keine Ruhe kennen.
Deshalb wohl sammelte er auch alles, was man in Büchern so findet – mit der Zeit wurde es eine richtige Obsession. Mit fünfzehn hatte er in einem Band mit Hoffmanns Märchen das Foto einer jungen, lachenden Frau in einem kurzen Kleid entdeckt, die vor einem Glaspavillon an einer hohen Blumenschale stand und lächelnd in die Kamera blickte. Das Bild war eingerissen, aber nur halb, als habe jemand es zerreißen wollen, sich die Sache aber dann doch anders überlegt. Die unbekannte Geschichte hinter all dem faszinierte Selinger ebenso wie seine eigene. Von da an suchte er in Antiquariaten, auf Flohmärkten oder bei Haushaltsauflösungen in Büchern gezielt nach solchen Hinterlassenschaften; darum wollte er auch Antiquar werden, glaube ich. Alle unsere Ankäufe blätterte er gründlich durch und bewahrte auf, was er an Fotos fand, an Geschriebenem und Bedrucktem: Zettel mit Notizen, alte Rechnungen, Eintrittskarten, Postkarten, Briefe, einmal sogar den Text einer Totenrede auf ein sechzehnjähriges Mädchen, das freiwillig aus dem Leben gegangen war. Er steckte seine Funde in Hüllen und notierte dazu den Titel des Buches, in dem er sie gefunden hatte, den Ort des Erwerbs und das Datum des Fundes; und wenn er mir ein neues Stück seiner Sammlung zeigte, musste ich kein großer Menschenkenner sein, um zu wissen: Jedes dieser Dinge konnte in seinen Augen eine Spur sein, die ihn endlich an sein Ziel führen würde.
Ja, Frau Doktor, ich weiß, es ist schon viel von unserer Zeit vergangen – aber ich muss Ihnen das alles erzählen, damit Sie das Ganze verstehen ...
Das, was mich umtreibt, nahm seinen Anfang im Juli, als ich in der Hinterlassenschaft einer alten Dame etwas wirklich Wertvolles fand: Niklas Amthors »Daimonion«. Amthor war von 1839 bis 1860 Pfarrer an unserer Marktkirche, ein überaus angesehener Mann. Schon vor dem »Daimonion« hatte er einiges publiziert, solide Schriften über das Alte und Neue Testament, wie damals für einen Theologen nicht unüblich. Aber dann, gegen 1858, muss mit ihm irgendetwas geschehen sein, und er verfasste dieses Buch, das die preußische Regierung drei Wochen nach seinem Erscheinen auf den Index setzte. Ich hatte in der Universitätsbibliothek einmal darin geblättert – na, für meine Begriffe war das nur mystisches Gepredige von einer dunklen Macht, die einst hier geherrscht hatte und eines Tages wieder erwachen würde. Die Veröffentlichung kostete Amthor seine Stelle, und er verschwand aus den Annalen der Stadt. Für sein »Daimonion« aber legt mancher Sammler heutzutage schon ein paar Tausender hin. Der Auktionator, der die Bücher der alten Frau kistenweise versteigerte, hatte keine Ahnung gehabt, was er mir da überließ – für einen Zwanziger.
Als ich den Band mit angehaltenem Atem aufschlug, um ihn zu prüfen, rutschte plötzlich das Foto heraus. Ich schaute es mir natürlich an – nichts Besonderes, eine Villa in einem kleinen Park, davor ein Mann im dunklen Anzug, Mittdreißiger, groß, aufrecht, mit langem, beinahe asketischem Gesicht und strenger Miene; kein sympathischer Zeitgenosse.
Selinger verschlang das Bild sofort mit den Augen, also gab ich es ihm; was sollte ich auch damit? »Ein kleiner Bonus«, scherzte ich dabei. »Aber wenn wir das Buch verkauft haben, leisten wir uns ein ordentliches Essen bei Krönert!« Das gönnten wir uns gelegentlich, wenn einer von uns einen besonderen Fang gemacht hatte.
Doch Selinger hörte gar nicht hin, murmelte nur »Ja, vielen Dank« und starrte das Bild so gebannt an wie ein Katholik das Turiner Grabtuch. Was daran fesselte ihn so? Erinnerte er sich vielleicht an etwas? Nach all den Jahren? Unwahrscheinlich – oder doch nicht?
Als Selinger das Foto umdrehte, leuchteten seine Augen auf, denn da stand in fast verblassten Tintenbuchstaben:
J. M., 1972
»Sagt Ihnen das etwas, Richard?«, fragte er, und seine Stimme zitterte dabei. »Ist das jemand aus Hallberg? Kennen Sie diese Villa? Sie sind doch von hier …«
Plötzlich tat er mir leid. Ich sah mir das Bild noch einmal genau an, aber ohne Erfolg. »Nein«, antwortete ich und zuckte die Schultern. »Leider nicht. Aber Hallberg ist groß, und 1972 noch nicht gar so lange her.« Natürlich wusste ich, was er dachte: Zwei Jahre früher war er in Selingen aufgetaucht, also konnte dieser Mann gut und gern sein Vater sein. Zwar hielt ich diese Chance für geringer als gering, trotzdem konnte ich ihn verstehen. »Na, setzen Sie sich schon an den Computer! Wenn ein Kunde hereinschneit, kümmere ich mich um ihn. Sie durchforsten das Internet, und ich widme mich unserem Schätzchen hier.« Damit tippte ich behutsam auf Amthors »Daimonion«.
Keine zehn Minuten später hatte ich jedoch meine gute Laune verloren – denn dem Buch fehlte eine Seite, einfach herausgerissen. »Barbaren!«, fluchte ich, und glauben Sie mir: Es lag nicht daran, dass ich meine Preisvorstellung nun deutlich nach unten korrigieren musste, es war diese Barbarei selbst. Wenn jemand ein Buch zerstört, noch dazu ein so seltenes, ist mir, als schneide er mir in mein eigenes Fleisch.
Selinger, obwohl er schon in seine Suche vertieft war, kam sofort zu mir herüber und schüttelte betroffen den Kopf, als er das Malheur sah: nur noch ein schmaler, gezackter Rest war von Seite 175 und 176 geblieben. »So jemand die Mächte auf folgende Weise …«, las er laut vor, womit Seite 174 endete, und dann »erwecken«, das erste Wort von 177. Rasch überflog er das Weitere, blätterte um, überflog noch zwei, drei Seiten, schüttelte dann den Kopf. »Pseudoreligiöser Unfug. Warum hat jemand ausgerechnet diese Seite ausgerissen?«
»Sie können ja in der Unibibliothek nachschauen, was da steht«, knurrte ich. »Dort haben sie das ganze Buch. Hab’s mal gelesen, vor Jahren. Irgendwas mit einer Bedrohung, die uns eines Tages alle auffressen wird. Dieser Amthor war ein Kauz. Vielleicht hat er auf der Seite beschrieben, wie man das Ungeheuer bekämpfen kann – oder es wecken, was weiß ich. Na, egal, ich setze das Buch trotzdem in den Katalog, irgendwer wird’s schon nehmen. – Und, haben Sie etwas entdeckt?«
»Bis jetzt noch nichts«, sagte er. »Aber ich habe ja gerade erst angefangen.«
Doch auch bis zum Ladenschluss hatte Selinger noch nichts herausbekommen, weder über J. M. noch über die Villa. So trennten wir uns beide an diesem Tag nicht in bester Laune. Ich gönnte mir bei Krönert ein gutes Schnitzel mit Bratkartoffeln und auch ein Bier mehr als üblich – nun erst recht! – und ging dann zeitig schlafen.
Am nächsten Morgen riss mich kurz vor fünf Uhr das Telefon aus dem Schlaf. Selinger.
»Ich habe es, Richard!« Er schrie diese Worte fast in den Hörer, mit vor Erregung zitternder, aber triumphierender Stimme. »Können Sie kommen, jetzt gleich? Ich möchte es mir gern zusammen mit Ihnen ansehen. Schäferstraße, Ecke Dedenstädter; Sie müssen bis zur Endstelle der 4 fahren, dort hole ich Sie ab. Und bringen Sie eine Taschenlampe mit.«
»Ich gehe sofort los«, antwortete ich – und so begann mein ganz persönlicher Albtraum.
Von der Stadtmitte aus, wo ich wohne, bis zum alten Industriegebiet im Osten braucht die Straßenbahn Nummer 4 mehr als eine halbe Stunde; sehr lange für meine Ungeduld, aber schließlich erreichte ich die Haltestelle, wo Selinger mich hastig begrüßte; seinem Blick, seinem Mienenspiel, seinen Gesten merkte ich höchste Erregung an.
»Wie haben Sie …«, setzte ich an, doch er fiel mir ins Wort: »J. M. – das steht für Jeremias Marten! Und die Villa ist keine fünf Minuten entfernt von hier!«
»Und wie also haben Sie …«, begann ich zum zweiten Mal, und wieder unterbrach er mich.
»Ich habe geträumt«, sagte er, in einem Ton, als könne er es selbst noch nicht recht glauben. »Etwas, an das ich mich nicht mehr erinnere; aber als ich aufwachte, wusste ich, dass es Jeremias Marten heißen muss. Der Rest war ein wenig Nachforschung im Internet; da gibt es eine Seite von einem Lokalhistoriker, auf der alles steht.«
»So, so, Marten …«, murmelte ich, von widerstreitenden Gefühlen geplagt. Natürlich freute ich mich für Selinger: Vielleicht bedeutete sein Traumeinfall ja, dass er sich wieder zu erinnern begann. Doch zugleich kam mir die ganze Sache äußerst seltsam vor: erst tauchte das Foto auf, noch dazu ausgerechnet in diesem mysteriösen Buch, und nun das? »Hören Sie, Tobias …« Doch er hörte augenscheinlich nicht, sondern lief mit großen Schritten los, dem Ziel entgegen, vielleicht dem Ziel seiner Suche; also folgte ich ihm achselzuckend die leere Straße zwischen aufgegebenen Fabrikhallen und Bürohäusern hinunter.
»Jeremias war der zweitgeborene Sohn des Fabrikanten Marten«, erklärte er mir im Gehen. »Der alte Marten muss reich gewesen sein, seine Druckmaschinen verkaufte er vor dem Krieg in die halbe Welt. Er verstand sich auch gut mit den Russen, als die fünfundvierzig kamen, und später mit der neuen Regierung. Bis 1972 gehörte ihm die Fabrik noch, dann musste auch er verkaufen – wie alle selbstständigen Fabrikanten. Jeremias ließ er studieren, sogar in Westberlin und in Paris, vor der Mauer ging das ja noch. Er baute ihm auch die Villa, nicht weit vom Haupthaus entfernt, fast auf dem Fabrikgelände. Marten war noch ein Patriarch vom alten Schlag, mit der ganzen Familie immer nah bei den Arbeitern. Aus der Firma hielt er Jeremias heraus – die leitete Friedrich, sein Erstgeborener. Jeremias scheint in dieser Richtung auch keine Ambitionen gehabt zu haben – er lebte für seinen Studien, wie es so schön heißt. Kurz vor seinem Vater ist er gestorben, 1988, also wenig über fünfzig Jahre alt; da war die Mutter schon fast dreißig Jahre tot.«
»Und war Jeremias verheiratet?«, fragte ich.
Selinger zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Davon stand nichts auf der Website. Friedrich lebt heute in Bayern. Wenn ich herausfinde, wo, erfahre ich bestimmt noch einiges mehr, vielleicht auch über mei… über Jeremias’ Frau. Aber mag sein, ich muss ihn gar nicht bemühen – immerhin sind wir hier, Richard.« Er sah mich mit glühenden Augen an. Sein Blick, sein Mienenspiel trieben mir einen Schauer über den Rücken, denn ich begriff, wie vernarrt er bereits in die Vorstellung war, Jeremias Martens und dessen unbekannte Frau könnten seine Eltern sein. Nun, er hat alles darüber herausgefunden, glaube ich …