Leseprobe aus E/METH

 

Königsnebel

 

 

Gregor fand sich in einem sandig-grauen Nebel wieder, der so dicht war, dass er weder die Decke noch die Wände, ja nicht einmal den Boden sehen konnte. Die Welt schien oberhalb seiner Füße zu enden, und als er einen Arm ausstreckte, verschwand seine Hand in der

Undurchdringlichkeit.

Dunkel war es jedoch keineswegs, ganz im Gegenteil. Das Glimmen, das die Welt der Gänge erleuchtete, schien an diesem Ort sogar näher an ihn herangerückt zu sein.

Das Wispern der Schwärze war fort.

Dreyfuß!, dachte er, bevor er sich fragte, wie er hierhergekommen war, und dieser stumme Name schien im Nebel widerzuhallen.

»Dreyfuß«, flüsterte er deshalb und es war ihm, als ob eine Welle durch die Luft ging. »Dreyfuß?« Es blieb bei einem Eindruck, eine Antwort erhielt er nicht. Aber wie sollte er auch …

»Hallo?«, fragte er in die entstehende Stille hinein. Seine eigene Stimme zu hören, gab ihm Kraft. »Ist hier jemand?«

Doch niemand antwortete. Allein der Klang der Worte flirrte noch durch den Raum, dessen Enden er nicht erkennen konnte, und hallte stetig leiser werdend in seinen Ohren wider.

»Hallo?« Er versuchte es ein letztes Mal, lauter zwar, doch mit ebenso wenig Erfolg. Eine Reaktion blieb aus.

Was sollte er tun?

Noch immer hatte er die Stelle, an der er sich wiedergefunden hatte, nicht verlassen. Wie war er hierhergekommen? Sobald er es wagte, nur ein Stück weit in sich hineinzuhorchen, dann erwartete ihn dort die Erinnerung an die Gänge, die Zeit mit Dreyfuß, ihre Überwältigung, den Kampf. Über dessen Ende wollte er lieber nicht mehr nachdenken. Er glitt ab und fand wieder hinaus in diese neue sandig-graue Welt. Auch wenn er vor ihnen floh, gaben ihm diese Erinnerung halt, denn sie waren echt in einer Weise, wie er es kaum zu greifen vermochte. Sie gehörte ihm, und das gab ihm ein kurzes Hochgefühl, dass er sich traute, mit einem ersten Schritt in den sandig-grauen Nebel hineinzutreten.

Sofort stob das undurchdringliche Glimmen so weit beiseite, dass allein seine Fußspitzen kurzzeitig darin verschwanden. Vor seinem restlichen Körper aber schien es zu fliehen. Beim nächsten Schritt wiederholte sich die Beobachtung. Er konnte zwar den Arm ausstrecken, bis er seine ganze Hand nicht mehr sehen konnte, auch mit dem Fuß war ihm das möglich, solange er sich langsam genug bewegte, sein Körper aber war von einer Blase reiner Luft umgeben.

Obwohl er nicht wusste, warum, diese Beobachtung gab ihm genug Sicherheit, um weiterzugehen. Auch der dichteste Nebel musste irgendwo ein Ende haben – oder einen Anfang, und dasselbe galt für diesen Raum. Das wusste er instinktiv. Denn nichts deutete darauf hin, dass er die Tunnel verlassen hatte. Nichts mit Ausnahme, dass vor seinen Augen alles anders war.

Während der Nebel vor ihm floh, gesellte sich zu dem Geräusch, das Füße auf harten Boden machte, unvermittelt ein weiteres hinzu. Ein Schlacken war es, dass jeden seiner Schritte beteiligte. Ein Schlacken, denn genau so klang es. Als trüge er leichte Sandalen, die immer dann nachschlackten, wenn er einen Fuß hob. Doch dem war nicht so. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was los war.

Als er tief in die Hocke ging, konnte Gregor es fühlen. Eine Schicht Feuchtigkeit lag über dem Boden und bildete darauf Schlieren aus sandig-grauem Schlick. Aufgrund der Nässe waren seichte Wellen entstanden, die schon bei leichtem Druck nachgaben. Hob er den Fuß anschließend wieder, sogen sie Wasser und gelangten in ihre ursprüngliche Form zurück.

Wann habe ich zuletzt getrunken?, fragte er sich und zerquetschte mit zwei Fingern einen Wellenkamm. Verspüre ich denn keinen Durst? Als er sie sich anschließend an seine Lippen hob, fühlte er die spröde Haut. Unvermittelt wuchs in ihm der Drang, die Feuchtigkeit abzulecken. Doch so schnell dieser gekommen war, so schnell ging er auch schon wieder und ihm folgte mit Nachdruck die Gewissheit, dass er dergleichen auf keinen Fall tun sollte, denn …

Niemand trinkt das Wasser! Außer Medard.

Gregor erhob sich.

Sofort zog der Nebel sich ein Stück weit nach oben zurück und bildete eine Kuppel, die groß genug schien, dass er in ihr herumlaufen konnte wie in einem Zimmer. Eine Käseglocke, die ihn von der Umwelt abschirmte, und er war die gefangene Maus darin. So ließ es sich am ehesten fassen, mit dem Unterschied, dass nichts daran die Funktion hatte, seinen Weg zu begrenzen, sondern, dass sie ihm zugleich vorausging und folgte wie ... Ja, wie eigentlich? Und warum?

Erst jetzt bemerkte er, dass er zu grübeln begonnen hatte, und kaum hatte er das erkannt, entglitten ihm die Gedanken. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder Dreyfuß, wie sie vor ihm stand, fast schon ein Wolf, und ihr Maul öffnete, als wollte sie ihn mit einem Happs verspeisen. Aber nicht das war es, was weh tat und seine Beine zittern ließ, bis er drohte, auf dem feuchten Boden auszurutschen. Nein. »Dreyfuß«, flüsterte er, und sei damit nicht alles gesagt, suchte er für einen Moment instinktiv ein Zeichen von ihr in der Ferne, hinter dem Nebel, außerhalb der Glocke. Doch dort war nichts als ein sandig-graues Glimmen.

Die Antworten, die allein ihre Nähe ihm gegeben hätte, blieben offen und die Fragen traute er sich nicht zu stellen.

Noch immer zögerte er, rutschte mit seinen Füßen auf dem Boden hin und her. Er massierte sich die Stirn, rieb die Augen und atmete tief durch. Wenn es hier etwas anderes geben sollte, dann würde er es nicht finden, indem er auf der Stelle wartete. Deshalb ging er los.

Erneut begleitete ihn mit jedem Schritt ein Schlacken. Es dauerte nicht lang, da wurde das Geräusch lauter. Die Feuchtigkeit hing nicht nur an seinen Füßen, mit jeder Bewegung schleuderte er sie auch auf. Erste Tropfen durchnässten seine Hosen. Anfangs klebte der Stoff noch an seinen Beinen, dann zerriss er wie feuchtes Zeitungspapier.

Als würde er langsam in einen See hinein waten, stieg das Wasser höher, umspülte bald seine Knöchel, seine Waden. Doch es war nicht wie in der Natur, wie draußen, in dieser sandig-grauen Welt des Nebels gab es keine Ufer, keine Steigung, und egal, wohin er trat, es machte keinen Unterschied.

Dies hieß aber auch nichts anderes als: Es gibt kein Zurück! Die Richtung war unerheblich, von Bedeutung erschien allein, dass er auf dem Weg war. Gregor wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, doch er ließ ihn Mut fassen. Denn er gab ihm ein Ziel, während das, was jeder hier mied, langsam nach oben stieg. Er zog seine Beine hoch, stakte hindurch, als würde es ihm etwas nützen, als würde er es so ein Stück weniger berühren.

Schließlich war der Stand so hoch, dass er die Füße beim Gehen nicht mehr herausstrecken konnte, und damit hörte auch das Schlacken auf. Stiller wurde es dadurch allerdings nicht, denn in der Ferne erscholl ein Rumoren. Für einen Moment blieb er stehen, lauschte und versuchte, die Natur des Geräusches zu ergründen. So tief wie das Donnern nach einem Blitzeinschlag klang es und doch rhythmischer, wie eine ununterbrochene Folge von Paukenschlägen. Nur was genau es war und woher es kam, dass blieb ihm verborgen.

Also ging er weiter, ziellos, spürte, wie das Wasser seine Knie umspülte, ihn aber weder wärmte, noch kühlte. So als hätte es keine Temperatur oder genau die seine, als verschwommen die Grenzen zwischen ihm und der Welt. Wie zur Bestätigung sandte der Nebel ihm ein Wummern, ein Geräusch, wie von der Membran eines lebendigen Lautsprechers. Mit jedem weiteren Schritt wurde es lauter. Mit jedem Augenblick ahnte Gregor mehr, dass es dennoch nicht näher kam, dass es keine Richtung gab, keinen Ursprung, dass es einfach da war, so wie er, ein Teil der sandig-grauen Welt.

Da spürte er, dass er wie zum Gebet die Hände gefaltet hielt und die Finger so sehr aneinander presste, dass es schmerzte. Er spürte die Knochen, die Gelenke, die trockene Haut. Wunden, Narben, Risse. Das pulsierende Blut. Er lebte. Das fühlte er, und das genügte ihm, um sich nicht gänzlich zu verlieren in dem Moment und seiner Blindheit, obwohl er sehen konnte und doch nichts erkannte.

Schließlich verlor Gregor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Das sandig-graue Glimmen hatte sich nicht verändert, auch der Nebel hatte sich nicht verzogen, so war er weiter gegangen und hatte mit jedem Schritt durch das Wasser einen Teil seiner Kraft aufgebraucht. Nur weil er bemerkte, wie er langsamer wurde, weil er sich sicher war, nicht mehr weiter zu können, weil er sich setzen musste, hatte er einen Eindruck davon, wie lange er schon unterwegs war. Doch einen Ort, an dem er rasten konnte, gab es nicht, keinen Stuhl oder Hocker, nicht einmal einen trockenen Platz. Also blieb er stehen, fluchte den Donnerpauken entgegen und klatschte mit den Handflächen auf die Wasseroberfläche, dass es spritze.

Ein einziger Schlag nur und doch so stark, dass er die Welt ins Wanken brachte.

Ein Wind zog auf, zunächst kaum mehr als ein Lüftchen hatte er schon wenige Augenblicke später merklich an Kraft gewonnen. Der Nebel geriet in Bewegung, schlieren aus sandig-grauem Glimmern bildeten sich, rotierten, formten Strudel. Dabei wuchs die Glocke, die sich über Gregor gestülpt hatte, so weit heran, dass er ihren Rand nicht mehr erreichen konnte.

Als das geschah, erstarb für einen Moment das Trommeln der Gewitterwolken und eine gespenstische Stille setzte ein. Gregor hörte das Rasseln seines Atems, spürte, wie sein Herz pochte. Einmal, zweimal, dreimal. Ein und aus, ein und aus. Doch der Rhythmus, in dem sein Körper lebte, gab ihm keine Sicherheit, während der ausklingende Sturm an seiner Kleidung riss. Aber warum hörte er den Wind nicht? Was geschah mit ihm?